Interview mit Kathrin Schaarschmidt und Katrin Frankenbach
Qualitative Online-Forschung: nicht nur jetzt eine gute Alternative!
Die Lage ist ja etwas besonders gerade. Was bedeutet das aus Eurer Sicht für die Marktforschung – insbesondere für die qualitative? Kann man das gerade noch machen?
Kathrin Sch.: Wir merken gerade, dass viele quantitative Projekte regulär weiterlaufen, insbesondere Online- oder Telefonstudien. Und das ist gut, denn viele Befragte haben jetzt gerade Zeit und Lust, an Studien teilzunehmen: die Panels melden uns zurück, dass die Responsiveness gerade steigt und wir sehen den gleichen Effekt auch in unseren Communities.
Bei qualitativer Forschung ist es ein bisschen anders, da klassische Face2Face-Gespräche gerade einfach nicht möglich sind – und wir wissen auch nicht, wie lange das so bleibt.
Das heißt aber nicht, dass qualitative Vorhaben nun ausnahmslos auf Eis gelegt werden müssen. Es gibt eine tolle Auswahl an Methoden zur qualitativen Online-Forschung, die wir in den letzten Jahren bereits verstärkt genutzt haben. Und genau hier machen wir jetzt nahtlos weiter.
Katrin F.: Wir merken auch gerade, dass viele unserer Community-Kunden ihre Forschungsaktivitäten in die bestehenden Langzeit-Communities verlagern, um dort u.a. auch verstärkt qualitativ zu forschen. Auch Pop-up-Communities sind gerade sehr gefragt. Das zeigt uns, dass nicht nur wir von diesen Methoden überzeugt sind.
Und wie sieht es mit den Ergebnissen aus? Werden sie von der aktuellen Lage beeinflusst?
Katrin F.: Natürlich geht das aktuelle Geschehen nicht spurlos an den Menschen vorbei. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Befragungsthemen von der aktuellen Lage beeinflusst werden. In einigen Fällen sind die Effekte vielleicht so stark, dass man gerade nicht forschen kann. Bei einem Großteil der Themen lässt sich aber mit dem richtigen Vorgehen auf die Situation reagieren; gerade qualitative Interviews eignen sich dazu.
Kathrin Sch.: Wenn man moderate Einflüsse der aktuellen Situation auf das Forschungsthema erwartet, kann man diese Effekte sowohl in der Interviewführung als auch in der Auswertung berücksichtigen. Und dabei hat die qualitative Forschung tatsächlich einen Vorteil: Die Warmup-Phase des Interviews gibt uns die Möglichkeit, den Rahmen für das Gespräch zu setzen und die aktuelle Verfassung der Teilnehmer einzuschätzen. Im Gespräch können wir dann empathisch und flexibel darauf reagieren. Zudem interessiert sich die qualitative Marktforschung seit jeher ganz besonders für das „Warum“: Wir ergründen Motive, Einstellungen und Beweggründe. Dabei fragen wir nicht nur, wir beobachten auch. Z. B. wie Teilnehmer auf eine Frage reagieren, wie sie sich verhalten.
Ein empathisches Vorgehen, Beobachten und tiefergehendes Nachhaken schaffen also gute Voraussetzungen dafür, die „Corona-Effekte“ zu mindern bzw. in der Analyse herauszuarbeiten und in den Ergebnissen zu berücksichtigen.
Ok, Ihr sagt also: Weiterforschen und zwar online! Aber ist es nicht aufwändig, die ganzen etablierten Arbeitsweisen umzustellen und sich in diese neuen Methoden einzuarbeiten?
Katrin F.: Es ist ja so, dass qualitative Online-Forschung im Grunde keine neue Sache ist. Nur wird aktuell einfach verstärkt darüber gesprochen. Gleichzeitig hatte sicher noch nicht jeder Berührungspunkte dazu.
Es ist ein bisschen so, wie mit dem Homeoffice. Jeder kannte es, viele haben es aber nicht oder nur sporadisch genutzt. Nun sind wir alle damit konfrontiert und von allen Seiten höre ich dieser Tage, dass es doch eigentlich gut klappt – wer zuvor schon viel aus dem Homeoffice arbeitete, ist davon vermutlich weniger überrascht. Solche Entwicklungen werden wohl auch einen langfristigen Effekt haben: Man kann davon ausgehen, dass Homeoffice auch nach Social Distancing deutlich stärker genutzt wird, als davor.
Und mit der qualitativen Online-Forschung ist es aus meiner Sicht genauso. Natürlich hatte bisher noch nicht jeder Marktforschungsverantwortliche Berührungspunkte mit diesen Methoden. Sie sind aber (nicht nur aktuell) eine sehr gute Wahl. Also ermutigen wir unsere Auftraggeber, die derzeitige Situation zum Anlass zunehmen, sich einmal stärker damit auseinander zu setzen und diese Methoden auszuprobieren. Das Schöne ist ja, dass man dabei sein methodisches Repertoire erweitert und dann auch zukünftig darauf zurückgreifen kann.
Qualitative Online-Forschung hat, auch außerhalb der aktuellen Situation, ihre ganz eigenen Vorteile und ist nicht nur ein Plan B in Krisenzeiten (die Vorteile reichen z. B. von der Erreichbarkeit regional gestreuter Zielgruppen und Personen, die nicht in ein Studio kommen können über das Interviewen im natürlich Umfeld bis hin zu Kosteneffizienzpunkten).
Wir haben in den vergangenen Jahren bereits viel mit Online Communities gearbeitet, sowohl Langzeit- als auch Kurzzeit-Communities. Dort sind qualitative Online-Forschungsmethoden wie Blogs, Foren, Tagebücher oder Remote-Einzelinterviews und -Gruppen an der Tagesordnung. Wir haben damit wirkliche tolle Erfahrungen und Insights gesammelt und auch unserer Auftraggeber spielen uns regelmäßig zurück, wie wertvoll diese Methoden für sie sind.
Im Übrigen ist es ja auch alles gar nicht so kompliziert und grundlegend anders als offline Methoden. Wir haben vor Kurzem mal in einem Video gezeigt, wie z. B. Remote-Fokusgruppen ablaufen und welche Möglichkeiten sie in ihrer einfachsten Variante bereits bieten.
Ihr habt Eure Erfahrungen mit Online-Communities angesprochen. Könnt Ihr dazu noch ein bisschen was erzählen? Was macht die Methode besonders?
Kathrin Sch.: Strenggenommen muss es sich bei Online-Communities nicht um eine rein qualitative Methode handeln. Aufgrund der engen Interaktion mit den Teilnehmern, kann man in Communities aber wunderbar qualitativ forschen.
Es gibt einerseits Langzeit-Communities, die ein bisschen wie ein eigenes Kundenpanel funktionieren und andererseits Pop-up-Communities, die meist zwischen zwei Wochen und drei Monaten andauern.
Bei einer Pop-up-Community lädt man eine bestimmte Anzahl an Teilnehmern für einen gewissen Zeitraum auf eine gemeinsame Plattform ein, die wir bereitstellen. Dort spielt man den Teilnehmern dann verschiedene Aktivitäten zu. Das Tolle daran ist, dass man aus dem gesamten Baukasten der Marktforschungsmethoden – sowohl qualitativ als auch quantitativ – schöpfen kann: Es gibt individuelle Aktivitäten (z. B. Online-Befragungen, Blog- & Diary-Tasks, Picture-Upload, Remote-Einzelinterviews). Und zusätzlich kann man auch Gruppenaktivitäten durchführen (z. B. Forendiskussionen, Remote-Fokusgruppen). Man kann dabei auch ganz gezielt steuern, welcher Teilnehmer welche Aktivität erhält.
Auf diese Weise kann man ein Thema aus ganz verschiedenen Blickwinkeln – und mit verschiedenen Methoden – beleuchten. Vielleicht zuerst mit einer vorbereitenden Individualaktivität (z. B. Blog oder Diary) und anschließend mit einer vertiefenden Gruppenaktivität (z. B. Forum). In der Regel erstellt man zu Beginn einen groben Research-Plan. In Abhängigkeit der tatsächlichen Ergebnisse passt man den Plan im Laufe der Community aber an, da gegebenenfalls neue Fragen aufgeworfen werden oder ein Thema vertieft werden soll. Auf diese Weise forscht man iterativ und hat dabei die Forschungsfragen immer im Blick.
Besonders gut eignen sich Pop-up-Communities übrigens auch für ethnographische Forschungsansätze: Wir haben in vergangenen Studien wahnsinnig wertvollen Input aus Tagebuchstudien oder „Day-in-a-life“-Reports erhalten: darunter wirklich umfangreiches und spannendes Bild- und Videomaterial. Wir – und auch unsere Aufraggeber – waren oftmals richtig begeistert, in welchem Umfang uns die Teilnehmer „in ihr Zuhause eingeladen“ haben.
Wenn man also ein Thema in der Tiefe erörtern will oder seine Kunden oder eine bestimmte Zielgruppe genau kennenlernen möchte, dann sollte man Pop-up-Communities definitiv in Betracht ziehen!
Ok, so eine Community eignet sich also besonders, um ein Thema umfassend und von verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Gibt es denn auch ‘kleinere’ Projekte, die sich eignen, um in die qualitative Online-Forschung einzusteigen?
Katrin F.: Natürlich gibt es auch deutlich „schlankere“ qualitative Online-Projekte. Das können z. B. Einzelinterviews oder -Gruppen sein, die nicht in eine Community eingebettet sind. Also im Grunde ein Umfang, den man auch häufig bei „regulären“ Adhoc-Studien nutzt.
Ein Beispiel ist die Evaluation von Kommunikationsmitteln, um zu prüfen, ob es vor dem finalen Versand noch dringenden Optimierungsbedarf gibt. Das ist auch gerade jetzt für viele Unternehmen relevant: Eine falsche Kommunikation in der aktuellen Lage kann schnell nach hinten losgehen.
So etwas kann man z. B. sehr gut mit ca. sechs Remote-Einzelinterviews, also einem eher „schlanken“ Vorgehen untersuchen: Es dauert im Grunde nur einen Tag. Wir greifen hierbei auf die Erkenntnis aus dem Usability-Testing-Bereich zurück: mit fünf bis sechs Interviews lässt sich bereits der Großteil der Fehler auf einer Website aufdecken. Danach sinkt der zusätzliche Nutzen weiterer Interviews rapide. Also finden wir mit ca. sechs Interviews auch die wichtigsten „Fehler“ und Optimierungspunkte in einem Mailing. Sind Wordings unverständlich? Fehlt der rote Faden? Stolpern Leser über Formulierungen oder Wordings? Ist die Bildwelt unpassend? Das Vorgehen lässt sich natürlich auch auf andere Materialien oder Kommunikationsformen übertragen, z. B. auf Werbespots. Da man, im Vergleich zu Studiotests, ein bisschen Budget einspart, kann man es z. B. dafür nutzen, iterativ vorzugehen und die Materialien nach dem Test zu optimieren und dann erneut zu testen.
Kathrin Sch.: Online-Interviews und -Fokusgruppen laufen im Grunde in ähnlicher Weise ab, wie im Studio und können zu allen möglichen Themen durchgeführt werden. Natürlich können über die Kamera und das Teilen des Bildschirms auch Materialien und Konzepte gezeigt und gemeinsame Notizen auf digitalen Whiteboards gesammelt werden (statt am Flipchart).
Um eine persönliche Atmosphäre zu schaffen und die Kommunikation „flüssig“ zu halten, haben wir mit Gruppengrößen von vier bis fünf Teilnehmern übrigens die besten Erfahrungen gemacht. So erhält man verschiedene Meinungen und es kann sich eine Diskussion entwickeln, bei der jeder Teilnehmer zu Wort kommt.
Generell ist zu sagen, dass man wirklich viele tolle Dinge in Remote-Interviews und -Gruppen machen kann. Man muss dafür (neben seinem Handwerk als Marktforscher) lediglich die Möglichkeiten der verschiedenen Konferenz-Tools sicher beherrschen und ein bisschen Kreativität mitbringen. Wir haben in diesem Bereich in den vergangenen Jahren viel Erfahrung gesammelt und verschiedene Vorgehensweisen erarbeitet. Dabei sind wir nicht auf ein bestimmtes Konferenz-Tool festgelegt, sondern nutzen in Abhängigkeit der Anforderungen verschiedene Tools.
So klappt qualitative Forschung richtig gut, auch wenn man sich nicht persönlich gegenübersitzt! Also: Wieso nicht mal ausprobieren?